Vanessa Wagner ist eine Grenzgängerin: Seit Mitte der 2010er-Jahre lotet die französische Pianistin die Übergänge zwischen Klassik und Gegenwart aus und verbindet Präzision mit der Offenheit des Experiments. Ihre Musik begreift dabei Klang stets als einen vielfältigen, lebendigen Raum. Mit ihrer Gesamteinspielung der „Complete Piano Etudes“ von Philip Glass widmet sie sich einem Werk, das zwischen 1992 und 2012 entstand und ursprünglich als technische Übung gedacht war: Glass wollte damit seine eigene Fingerfertigkeit erweitern. Im Laufe der Jahre wurde daraus jedoch ein poetischer Zyklus, der Wiederholung und Variation, Struktur und Emotion in immer neuen Konstellationen miteinander verwob. Vor allem in den Études Nr. 11 bis Nr. 20 ging es weniger um technische Fragen als vielmehr um solche des Ausdrucks. Ein offenbar beglückendes Spielfeld für Wagner, die diese Werke nicht als Denkmal des Minimalismus, sondern als atmendes Gefüge begreift. Scheinbar mühelos interpretiert sie sie als Miniaturen in einem ständigen Fluss, lässt sie an- und abschwellen, leuchten und verblassen und – sehr wichtig – immer leben.