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Artikel 70 / 88

Eike Geisel über Alain Finkielkraut: »Der eingebildete Jude«

Narziß am Abgrund Alain Finkielkraut, 32, lebt in Paris und hat, gemeinsam mit Pascal Bruckner, »Die neue Liebesunordnung« und »Das Abenteuer gleich um die Ecke« veröffentlicht. - Eike Geisel, 36, ist Autor von »Im Scheunenviertel«, einem Bildband über den ostjüdischen Zufluchtsort in Berlin-Alexanderplatz nach dem 1. Weltkrieg.
aus DER SPIEGEL 17/1982
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Molieres eingebildeter Kranker, Monsieur Argan, ist ein quengelnder Hypochonder. Wir wissen, daß der Dichter, der den »Malade imaginaire« auch auf der Bühne verkörperte, selbst allen Grund hatte, die Krankheit zu fürchten. Nach der vierten Aufführung, noch in den Bühnenkleidern Argans, starb er an einem Blutsturz.

Alain Finkielkrauts »eingebildeter Jude« hingegen ist ein quirliger Narziß: keine Kunstfigur, sondern eine äußerst lebendige Person, deren theatralische Verkleidungen der Autor Kostüm für Kostüm abstreift, um sie in der Rumpelkammer der Halluzinationen abzustellen. Freimütig gesteht der Autor: Der eingebildete Jude - c'est moi, oder richtiger: Ich habe ihn lange Zeit gespielt. »'Der Jude' war meine beste Nummer, das Originellste, was ich zu bieten hatte.«

Dieses provozierende Bekenntnis, das in immer neuen Variationen das ganze Buch durchzieht, mag den Antisemiten wie Musik in den Ohren klingen. Auch die deutsche Linke hat offenbar schon lange auf ein derartiges Geständnis gewartet. Als beispielsweise der Journalist Henryk M. Broder sich mit Aplomb nach Jerusalem verabschiedete, rief ihm da nicht in der linken Zeitschrift »Konkret« Hermann Peter Piwitt mit der Autorität des Schriftstellers hinterher: »Lernen wir, unbefangen zu sein ... wir haben noch immer nicht restlos (!) gelernt, Juden bzw. Israelis für ganz normale Menschen zu nehmen.« Broder war das egal, nur den hessischen CDU-Chef Dregger hat der in dem Nachruf steckende Eifer, wenn auch mit Verzögerung, beeindruckt. So war kürzlich von Dregger zu hören: »Ich rufe alle Deutschen auf, aus dem Schatten Hitlers herauszutreten - wir müssen normal werden!«

Um diese Normalität aber geht es Finkielkraut zuallerletzt. Seine gescheit und geistreich vorgetragene Enthüllungsgeschichte der eigenen Person hat auch nichts mit den peinlichen Entblößungen der Langweiler gemein, die nur ihr Selbst und sonst nichts zu bieten haben. Dem Leser begegnet vielmehr eine Figur, die plötzlich von Zweifel ergriffen wird: vom Zweifel an der Befriedigung, Jude zu sein - und dies um so mehr, als Finkielkraut bald feststellt, daß »ich die geschichtliche Originalität nicht verdiente, die der rauschhafte Wahn meiner Jugend war«. In seiner Phantasie war er Dreyfus, der Kämpfer im Warschauer Getto und der Märtyrer im »onzentrationslager in einer Person. Verfluchter durch » » Identifikation, Märtyrer durch Stellvertretung, Überlebender » » durch Vermittlung der Eltern - das ist es, was dieses Buch » » mit dem Ausdruck »eingebildeter Jude« meint. Jude zu sein, » » das war für mich lange Zeit ein Recht: das Recht, mir » » Prüfungen anzueignen, die ich nicht erlitten hatte, und dank » » des Schicksals meines Volkes der Mittelmäßigkeit meines » » Lebens zu entrinnen. Mein Judentum war für mich ein Hauch von » » Leiden und Tragödie als würzende Zutat in der Banalität » » meines Alltagsdaseins. »

Um den Zweifel zu besänftigen, der an der Einbildung frißt, sucht er auch nach jüdischer Tradition, nach Spuren jüdischer Erfahrung, aber diese beiläufige Suche schürt nur das Mißbehagen. Außerdem weiß Finkielkraut sehr genau, in welche Zeit solche Recherchen fallen: Heute, da niemand mehr weiß, wohin die Reise geht, wollen alle wenigstens die Gewißheit haben, woher sie gekommen sind.

Die Schwärmerei für die Heimat hat die Begeisterung für die Revolution abgelöst, und die Alternativen lamentieren über die Entwurzelung, als seien ihre Vorfahren jener Rettich gewesen, dessen Rest sie nun in sich selber zu entdecken suchen. Da fallen Juden unangenehm auf. Sie sind beweglich wie das Geld, denn: »Es gibt nichts Heimatloseres, Entwurzelteres, Aashafteres als das Kapital.« So der Brustton der alt-neuen Bodenständigkeit - ein Schlüsselsatz aus der Spätheimkehrerprosa des bereits erwähnten linken deutschen Schriftstellers.

Dieser flächendeckende Schwindel, der betriebsame Drang zu den Wurzeln, ist für Finkielkraut eine weiße Fläche, ein blinder Spiegel. Nichts besitzt er an jüdischer Erfahrung, woran eine sehnsüchtige Illusion sich klammern könnte. Nichts, außer der immer wiederkehrenden Erkenntnis, daß die jüdische Welt in Galizien ermordet worden ist, daß die Überlebenden - auch seine Eltern - nur noch ein flüchtiger Schatten jener Welt sind, die einmal selbstverständlich jüdisch war.

Er selbst ist ein Kind des »zweiten Exils«, das, erwachsen, vergebens hofft, aus der Vorliebe für Mohnkuchen oder süßen Tee unwillkürlich eine vergangene jüdische Kindheit zu erinnern. Es geht nicht wie bei Proust zu. Finkielkraut hat, nachdem er sich von der Rolle des eingebildeten Juden verabschiedet hat, nur noch »die nutzlose Leidenschaft, die mir eine untergegangene Kultur einflößt«. Kein biographischer Faden, kein tröstendes Wiedererkennen.

Auf der Suche nach der Zeit der Verlorenen verkehrt sich seine Annahme, durch das - zur Schau gestellte - Judentum aus der Gesellschaft verbannt zu sein, in die Gewißheit, durch den Völkermord aus dem Judentum ausgeschlossen zu sein. Der Narziß, der sich am Nazismus labte, blickt in den Spiegel und sieht darin nicht mehr den Rächer von Treblinka oder den kämpfenden Bundisten in Litauen - sondern er blickt in einen Abgrund: in eine Tiefe, die keine Erfahrung je überbrücken kann.

Den endgültigen Bruch mit der Rolle des eingebildeten Juden vollzog Finkielkraut im Gefolge der Mai-Revolte. Die Protestbewegung sei eine einzige Verwechslungskomödie gewesen, resümiert er die sechziger Jahre in einem bissigen Rückblick, neben dem sich die gängigen deutschen Veröffentlichungen ausnehmen wie tranige Seminararbeiten von Leuten, deren geheimer Wunsch schon immer war, Sozialarbeiter zu werden.

»Wir sind alle deutsche Juden« war im Mai 68 die Parole der Demonstranten, S.230 die in Frankreich gegen die Verweigerung der Wiedereinreise von Cohn-Bendit protestierten. Zuerst irritiert über diese volkstümliche Aneigung seiner Exklusivrolle und ratlos wie ein beraubter Bankier, der nicht recht weiß, wo und weshalb er sich eigentlich beschweren sollte, erkennt Finkielkraut in ihr sehr bald den Beginn einer Entwicklung, in deren Verlauf die Revolte sich selbst liquidierte.

Wir wissen heute, eine wie konvertible Währungseinheit das Schicksal der Juden im politischen Geschäft geworden ist. Wenn alle Gewalt seit Hitler unweigerlich die Namen der Henker und die Stätten der Vernichtung heraufbeschwört, wenn von Südamerika bis in die Sowjet-Union die Verbrechen der Herrschenden unwillkürlich an die Nazikatastrophe erinnern, dann gilt umgekehrt, daß die Opfer keine Erben haben. Alles andere ist Indienstnahme.

Auf einmal wurden die Ermordeten zu nützlichen Toten. Sie kamen regelrecht ins Geschäft, noch ehe das Fernsehen an ihre Verwertung dachte. Zwar gab es schon israelische Politiker, die für sehr physische Zwecke eine Art metaphysischen Alleinvertretungsanspruch geltend machten und das unbegreifliche Grauen für sehr greifbare Ziele reklamierten; zwar gab es deutsche Theologen, welche die nützliche Bestimmung von Auschwitz erklärten und die Vernichtung gewissermaßen als Fegefeuer auf dem heilsgeschichtlichen Weg des Volkes Israel erklärten - so daß man beinahe darüber vergessen konnte, daß die Deutschen subalterne Mörder waren, wo sie doch fast als der lange Arm Gottes fungiert haben sollten. Den wirklichen Durchbruch aber, den schaffte erst die Linke. Sie vollendete erst richtig jene Profanisierung der Theologie und vervollkommnete die Mystifizierung der Geschichte, indem sie die Juden zum abstrakten Symbol der Unterdrückung, zum wiederverwendbaren Fetisch, zur Anstecknadel und Gesinnungsbrosche vernutzte.

Finkielkraut berichtet vom Verwirrspiel der französischen Linken, die nach dem Motto »Jedem sein Jude« immer neue Juden entdeckte, von Algerien bis Vietnam, um schließlich Vergnügen daran zu finden, selbst einmal in die Rolle des Paria zu schlüpfen. Die jüdischen Linken verhielten sich nicht anders, nur war bei ihnen der Karneval Dauerzustand, es gab keinen fliegenden Kostümwechsel. Sie führten einen unnachsichtigen Kampf gegen das, was sie als »Israelisierung« der jüdischen Gemeinschaft Frankreichs bezeichneten, und wurden dafür von den Eltern des Verrats an ihrer Herkunft bezichtigt.

Che Guevara gegen Mosche Dajan, schließlich der Palästinenser als der Jude der Juden. Finkielkraut berichtet ohne Häme von diesen traurigen Zwitterexistenzen jüdischer Linksradikaler, die in Arafat fast den Messias sahen und unentwegt S.231 den heroischen Kampf der Palästinenser priesen, während sie, bebend vor Angst, dieser Messias könnte wirklich kommen, am Radio den Verlauf des Oktoberkrieges verfolgten.

Finkielkraut spricht von Frankreich, wendet sich an die französischen Juden und an die Generation nach Auschwitz. Wir müssen von Deutschland reden und von der Schande der deutschen Linken, über die die Essays des Autors gleichermaßen berichten, ohne sie ausdrücklich zu erwähnen. Und diese Schande besteht darin, daß die Linke vergessen hat, wo sie wohnt: nämlich im Haus des Henkers. Sie hat vergessen, unter wessen Kindern und als wessen Kinder sie hier lebt.

Daß die ganze Nation wie ein Mann hinter dem deutschen Kanzler stand, als der israelische Ministerpräsident die unangenehme Wahrheit ausplauderte, Helmut Schmidt habe als Nazisoldat nie seinen Fahneneid gebrochen, daß die einhellige Entrüstung von keinem Zwischenruf getrübt wurde - dies lag allein an der Kopflosigkeit der Linken. Sie sah und sieht, wie alle Welt, in Begin nur den wildgewordenen israelischen Chauvinisten, der er zweifellos ist.

Nur: Begins Wutausbruch als spinnerte Geste eines zionistischen Zorro oder senilen Nahost-Sheriffs abzutun, das bleibt in Deutschland noch immer das Privileg der Juden. Die Linke hätte sich mit ihrem Widerspruch gegen diesen neuerlichen Beweis zunehmender nationaler Eintracht nicht der israelischen Besatzungspolitik gemein gemacht, sondern im Gegenteil erst die moralischen Voraussetzungen für deren Kritik geschaffen. Sie hätte einen Hauch jener Würde zurückgewonnen, die sie für einen flüchtigen historischen Augenblick einmal besessen hat.

So falsch es ist, Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen (was Finkielkraut tut), so richtig ist sein Befund, daß die geschichtslose Unschuld, die sich revolutionär gebärdet, an Israel einen neuen Universalfeind findet. Begann nicht damals, als ein Berliner Kommunarde, statt an seinen Lustproblemen zu werkeln, mit einer Kalaschnikow in Jordanien spielte, die moralische Selbstverstümmelung? Aus Amman kam seinerzeit ein offener Brief »An die Genossen«, sie sollten ihren »Judenknacks« endlich überwinden und sich nicht aufregen, wenn im jüdischen Gemeindehaus, dieser »Agentur des Zionismus«, gezündelt oder gebombt würde.

Daß heute, bei der Verteilung der Sterne, jeder nach ihnen greifen kann, das verdanken die Deutschen ihrer Linken. Daß CSU-Politiker weinen, sie fühlten sich diskriminiert wie Juden, daß katholische Geistliche den Schwangerschaftsabbruch als legalisierten Völkermord bezeichnen, das ist nicht nur obszön, das hat auch Gründe. Die Linke hat ihnen die Zunge gelöst und das Stichwort gegeben: Jude. Als die Linke von der Bühne abtrat, hat sie mit dem S.232 Codewort souffliert, der herrschaftsfreie Diskurs über die Vergangenheit könne nun beginnen.

Als Satire auf den Formalismus der Wissenschaft beschließt Molieres Komödie vom »Eingebildeten Kranken« ein Ballett. Ein ähnlicher, wenngleich kokett melancholischer Zug eignet den Schlußkapiteln von Finkielkrauts Buch. Sein abschließendes »Plädoyer für das Unbestimmbare« und die »Sehnsucht nach dem, was ich nicht sein kann«, läßt auf die radikale Entzauberung des vergötzten Ego ein etwas gefühliges Satyrspiel folgen. Sein »anderes Verlangen« nach Erinnerung an das Nichtpolitische, die geistige Tradition, die Sozialgeschichte und den Alltag des Judentums - all das schmeckt ein wenig nach dem Weihrauch vom »Prinzip Hoffnung«, der die heimatsuchende Linke so angenehm umnebelt.

Aber von Finkielkrauts Sehnsucht geht keine Gefahr aus, sie ist nicht Träumerei nach vorn und schon gar kein Aktionsprogramm. Und das Pathos steht ihr an wie einem Greis die Wollust. Seine frohe Botschaft heißt: von der Politik weg zur Erinnerung. Die geschäftige Entmystifizierung der Dialektik hat nun neben Marx, dem Vater des Gulag, eine neue Erbsünde entdeckt: die Politik. Haben Politik und Polizei nicht etwa dieselbe Wurzel?

»Plötzlich sind wir damit beschäftigt, die abgerissenen Fäden wieder zu knüpfen und vergessene Welten auszugraben« - Finkielkraut gerät fast ins Schwärmen und präsentiert uns als poliertes Fundstück das »autonome und wohlgeordnete Leben der Gemeinden im polnischen Schtetl, jener realen Gesellschaften ohne Staat«. Keine Armut, keine muffige Enge, kein drückendes Elend, keine jüdischen Revolutionäre - sondern Anatevka.

»Soviel Wahrheit wie möglich festzuhalten und weiterzugeben« lautet der Schlußsatz in Finkielkrauts Konfessionen, er ist das jüdische Credo »Mon coeur mis a nu«. Und die Wahrheit, um die alle seine Gedanken oszillieren, seine Ausflüge in die unmittelbare Gegenwart des Nahen Ostens wie in die ferne Geschichte des näheren Westens, sein bissiger Abschied von der Politik wie die lyrische Einstimmung auf eine neue Aufmerksamkeit - diese Wahrheit liegt am Grund jüdischen Denkens nach der Katastrophe.

Mit keiner Macht verbündet, nur mit der Verzweiflung und den Wünschen der Toten, mit einer unzureichenden Erinnerung, bringt Finkielkraut einen Satz zu Gehör, den nach dem Willen der Deutschen niemand mehr aussprechen und vernehmen sollte: »Mir seien do.« Seit den Tagen jenes jüdischen Partisanenliedes gemahnt die in der Ohnmacht hartnäckige Versicherung »Wir sind da« weniger an die vergangenen Massenverbrechen als an die nicht geringere Katastrophe, daß es so weitergehen könnte.

S.228

Verfluchter durch Identifikation, Märtyrer durch Stellvertretung,

Überlebender durch Vermittlung der Eltern - das ist es, was dieses

Buch mit dem Ausdruck »eingebildeter Jude« meint. Jude zu sein, das

war für mich lange Zeit ein Recht: das Recht, mir Prüfungen

anzueignen, die ich nicht erlitten hatte, und dank des Schicksals

meines Volkes der Mittelmäßigkeit meines Lebens zu entrinnen. Mein

Judentum war für mich ein Hauch von Leiden und Tragödie als würzende

Zutat in der Banalität meines Alltagsdaseins.

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